nggalai
2003-10-22, 20:03:04
(Teil 1)
Herr Meier, schauen Sie mal, Kartoffelstock!
Der Zivilschutz will moderner werden. Früher das Auffangbecken der ausgeschiedenen Soldaten und wehrdienstuntauglichen Schweizer, hat der Zivilschutz heute die Aufgabe, dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen. Also schickt man zwanzig Männer ohne irgendwelche Ausbildung in dem Gebiet als Pfleger ins lokale Alters- und Pflegeheim. Macht absolut Sinn. Die jungen Menschen sollen, Zitat, Berührungsängste zu alten Menschen sowie Ekelgefühle abbauen, und mal was anderes machen als sie gewohnt sind, Zitat Ende. Ich kann wohl ohne Übertreibung behaupten, dass der erste Tag der zweitägigen Zivilschutz-"Übung" in der Hinsicht vollends zu befriedigen wusste.
Halb zwölf Uhr, Mittagessen. Die Szene: Drei Tische stehen in einem übelst dekorierten Zimmer, aus den Lautsprechern klingt Radiomusik. An den ersten beiden Tischen sitzen zusammen acht etwa 60 bis 70jährige "Bewohner" — das Wort "Patient" ist im Altersheim verpönt — alle noch recht rüstig, auch wenn Herr Keller der Meinung ist, nackt am Tisch zu sitzen (was er nicht tut) und Frau Müller alle 5 Minuten einmal "Huhu" kreischt. Am dritten Tisch sitzt die alte Garde der Pflegestation: fünf 80-100jährige. Praktisch alle "Bewohner" im Zimmer sitzen in Rollstühlen und tragen riesige Papierlätze um den Hals. Die "Bewohner" an den ersten zwei Tischen sind selbstständig genug, sich ohne fremde Hilfe zu ernähren. Anders bis auf eine Ausnahme die Rollstuhlfahrer am dritten Tisch: Die dürfen gefüttert werden. Heute gibt's Hünchenbrust mit Broccoli und Kartoffelstock, für Tisch 1 und 2 in fester Form, Tisch 3 muss sich mit drei verschiedenfarbenen Pasten begnügen. Das macht aber nichts: Bis auf die bereits angekündigte Ausnahme — Frau Schmid — bekommt das eh niemand mit. Frau Schmid ist die einzige Person am dritten Tisch, die feste Nahrung sowie Besteck bekommt, denn trotz ihrer 101.5 Jahre und gewissen Kommunikationsschwierigkeiten isst sie noch immer selbst und ist auch sonst erstaunlich aktiv. Ich bin mit einem anderen Zivilschützer, der ebenfalls Sacha heisst (nur anders geschrieben), dieser Station zugeteilt.
Schwester: "OK ihr zwei, jetzt üben wir mal Eingeben." - "Eingeben?" - "Ja, Essen Eingeben." - "OK."
Ich darf mich neben Anna setzen, eine etwa 80jährige Schlaganfallpatientin. Oh, entschuldigung, Schlaganfallbewohnerin.
Sascha: "Wie geht das mit dem Füttern genau?" - "Wir sagen Eingeben, Füttern klingt zu abschätzig. Du nimmst den Löffel, schmierst etwas von der Paste drauf, und dann berührst Du damit Annas Unterlippe bis sie kappiert, dass Essenszeit ist, und schiebst den Löffel rein." - "OK."
*stopf*
"Anna? Essen? Hallo? Jemand zuhause?"
*stopf*
"Schwester, irgendwie will Anna nicht."
"Oh, Du sitzt auf der falschen Seite. Anna ist links seit ihrem Schlaganfall blind und taub. Sitz rechts von ihr."
*umplatzier* *Löffel grabsch*
*fütter*
Entschuldigung, *eingeb*
"OK, das scheint zu funktionieren. Aber hat sie tatsächlich schon nach drei Löffeln genug? Sie scheint nicht mehr zu wollen." - "Nö, die muss noch mehr essen. Anna hat einen etwas eigenwilligen Rhythmus. Du wirst das schon noch in den Griff kriegen."
Die Schwester hatte recht mit dem "eigenen Rhythmus", denn nach jedem 3. Löffel schläft Anna kurz ein.
*rüttel*
"ANNA! ESSEN!"
*reinstopf*
Das geht dann so 15 Minuten weiter.
Währendessen hat sich die 101.5 Jahre-alte Frau schön selbstständig durch ihre Hühnerbrust durchgearbeitet. An der anderen Seite des Tisches sitzt der andere Sacha und versucht Herrn Meier zu fü... einzugeben.
"HERR MEIER!!!! SCHAUEN SIE MAL! KARTOFFELSTOCK!!!"
Herr Meier (94) hat ähnlich wie Anna die lustige Angewohnheit, nach jedem Bissen zuerst mal ein 2minütiges Nickerchen einzuschieben. Mehr muss ich dazu wohl nicht sagen.
"Ihr beiden Jungs habt das ja im Griff. Ich kümmere mich dann mal um die bettlägrigen Bewohner. Wenn was ist, einfach schreien." - "OK." - "OK."
Wir stopfen also komische, farbige Essens-paste in alte Leute rein, als es passiert. Frau Schmid, die 101.5jährige, fängt an stossweise zu husten. Die Adern an ihren Schläfen werden immer dicker, und ein gewisser Blaustich macht sich um die Lippen bemerkbar.
"Hey, Sacha. Was machen wir jetzt?" - "Keine Ahnung, Sascha." - "Ich ruf mal die Schwester. Aber das würde ein gutes Photo abgeben." - "Kein Kommentar. Erstickt die da gerade?"
Sascha: "SCHWESTER! ICH GLAUB' HIER STIRBT WER!"
Die Schwester kommt rein. "Oh." Die Schwester geht wieder raus, und kehrt mit zwei Pflegern zurück. Die beiden halten die 101.5jährige zurück, während die Schwester in Frau Schmids Mund rumfummelt.
Und dann fischt die Schwester Frau Schmids Gebiss raus.
"Jetzt hast Du schonwieder dein Gebiss verschluckt."
*hust* *hust* *würg*
Die 101.5jährige erholt sich, grabscht ihr Gebiss, reinigt es mit der Papierserviette, setzt es ein, und isst in einer Seelenruhe weiter. Das ganze hat etwa 30 Sekunden gedauert. Mitlerweilen hat Anna damit begonnen, mit dem Kartoffelstock lustige Muster auf den Tisch zu malen.
"Oh. Keinen Kartoffelstock mehr, Anna? Suppe?"
*Suppe mit Schnabeltasse eingeb*
*Suppe ausspuck*
"OK, keine Suppe. Dessert?"
*Mund schlagartig aufreiss*
Und Anna hat das ganze Dessert (Apfelkompott) runtergeschlungen.
Schwester: "Gut gemacht! Ja, Anna mag ihre Desserts."
Im Hintergrund schmeissen einige andere Greise mit Kartoffelpüree um sich, und ich weiss: Nö, Pflege ist kein Job für mich.
Herr Meier, schauen Sie mal, Kartoffelstock!
Der Zivilschutz will moderner werden. Früher das Auffangbecken der ausgeschiedenen Soldaten und wehrdienstuntauglichen Schweizer, hat der Zivilschutz heute die Aufgabe, dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen. Also schickt man zwanzig Männer ohne irgendwelche Ausbildung in dem Gebiet als Pfleger ins lokale Alters- und Pflegeheim. Macht absolut Sinn. Die jungen Menschen sollen, Zitat, Berührungsängste zu alten Menschen sowie Ekelgefühle abbauen, und mal was anderes machen als sie gewohnt sind, Zitat Ende. Ich kann wohl ohne Übertreibung behaupten, dass der erste Tag der zweitägigen Zivilschutz-"Übung" in der Hinsicht vollends zu befriedigen wusste.
Halb zwölf Uhr, Mittagessen. Die Szene: Drei Tische stehen in einem übelst dekorierten Zimmer, aus den Lautsprechern klingt Radiomusik. An den ersten beiden Tischen sitzen zusammen acht etwa 60 bis 70jährige "Bewohner" — das Wort "Patient" ist im Altersheim verpönt — alle noch recht rüstig, auch wenn Herr Keller der Meinung ist, nackt am Tisch zu sitzen (was er nicht tut) und Frau Müller alle 5 Minuten einmal "Huhu" kreischt. Am dritten Tisch sitzt die alte Garde der Pflegestation: fünf 80-100jährige. Praktisch alle "Bewohner" im Zimmer sitzen in Rollstühlen und tragen riesige Papierlätze um den Hals. Die "Bewohner" an den ersten zwei Tischen sind selbstständig genug, sich ohne fremde Hilfe zu ernähren. Anders bis auf eine Ausnahme die Rollstuhlfahrer am dritten Tisch: Die dürfen gefüttert werden. Heute gibt's Hünchenbrust mit Broccoli und Kartoffelstock, für Tisch 1 und 2 in fester Form, Tisch 3 muss sich mit drei verschiedenfarbenen Pasten begnügen. Das macht aber nichts: Bis auf die bereits angekündigte Ausnahme — Frau Schmid — bekommt das eh niemand mit. Frau Schmid ist die einzige Person am dritten Tisch, die feste Nahrung sowie Besteck bekommt, denn trotz ihrer 101.5 Jahre und gewissen Kommunikationsschwierigkeiten isst sie noch immer selbst und ist auch sonst erstaunlich aktiv. Ich bin mit einem anderen Zivilschützer, der ebenfalls Sacha heisst (nur anders geschrieben), dieser Station zugeteilt.
Schwester: "OK ihr zwei, jetzt üben wir mal Eingeben." - "Eingeben?" - "Ja, Essen Eingeben." - "OK."
Ich darf mich neben Anna setzen, eine etwa 80jährige Schlaganfallpatientin. Oh, entschuldigung, Schlaganfallbewohnerin.
Sascha: "Wie geht das mit dem Füttern genau?" - "Wir sagen Eingeben, Füttern klingt zu abschätzig. Du nimmst den Löffel, schmierst etwas von der Paste drauf, und dann berührst Du damit Annas Unterlippe bis sie kappiert, dass Essenszeit ist, und schiebst den Löffel rein." - "OK."
*stopf*
"Anna? Essen? Hallo? Jemand zuhause?"
*stopf*
"Schwester, irgendwie will Anna nicht."
"Oh, Du sitzt auf der falschen Seite. Anna ist links seit ihrem Schlaganfall blind und taub. Sitz rechts von ihr."
*umplatzier* *Löffel grabsch*
*fütter*
Entschuldigung, *eingeb*
"OK, das scheint zu funktionieren. Aber hat sie tatsächlich schon nach drei Löffeln genug? Sie scheint nicht mehr zu wollen." - "Nö, die muss noch mehr essen. Anna hat einen etwas eigenwilligen Rhythmus. Du wirst das schon noch in den Griff kriegen."
Die Schwester hatte recht mit dem "eigenen Rhythmus", denn nach jedem 3. Löffel schläft Anna kurz ein.
*rüttel*
"ANNA! ESSEN!"
*reinstopf*
Das geht dann so 15 Minuten weiter.
Währendessen hat sich die 101.5 Jahre-alte Frau schön selbstständig durch ihre Hühnerbrust durchgearbeitet. An der anderen Seite des Tisches sitzt der andere Sacha und versucht Herrn Meier zu fü... einzugeben.
"HERR MEIER!!!! SCHAUEN SIE MAL! KARTOFFELSTOCK!!!"
Herr Meier (94) hat ähnlich wie Anna die lustige Angewohnheit, nach jedem Bissen zuerst mal ein 2minütiges Nickerchen einzuschieben. Mehr muss ich dazu wohl nicht sagen.
"Ihr beiden Jungs habt das ja im Griff. Ich kümmere mich dann mal um die bettlägrigen Bewohner. Wenn was ist, einfach schreien." - "OK." - "OK."
Wir stopfen also komische, farbige Essens-paste in alte Leute rein, als es passiert. Frau Schmid, die 101.5jährige, fängt an stossweise zu husten. Die Adern an ihren Schläfen werden immer dicker, und ein gewisser Blaustich macht sich um die Lippen bemerkbar.
"Hey, Sacha. Was machen wir jetzt?" - "Keine Ahnung, Sascha." - "Ich ruf mal die Schwester. Aber das würde ein gutes Photo abgeben." - "Kein Kommentar. Erstickt die da gerade?"
Sascha: "SCHWESTER! ICH GLAUB' HIER STIRBT WER!"
Die Schwester kommt rein. "Oh." Die Schwester geht wieder raus, und kehrt mit zwei Pflegern zurück. Die beiden halten die 101.5jährige zurück, während die Schwester in Frau Schmids Mund rumfummelt.
Und dann fischt die Schwester Frau Schmids Gebiss raus.
"Jetzt hast Du schonwieder dein Gebiss verschluckt."
*hust* *hust* *würg*
Die 101.5jährige erholt sich, grabscht ihr Gebiss, reinigt es mit der Papierserviette, setzt es ein, und isst in einer Seelenruhe weiter. Das ganze hat etwa 30 Sekunden gedauert. Mitlerweilen hat Anna damit begonnen, mit dem Kartoffelstock lustige Muster auf den Tisch zu malen.
"Oh. Keinen Kartoffelstock mehr, Anna? Suppe?"
*Suppe mit Schnabeltasse eingeb*
*Suppe ausspuck*
"OK, keine Suppe. Dessert?"
*Mund schlagartig aufreiss*
Und Anna hat das ganze Dessert (Apfelkompott) runtergeschlungen.
Schwester: "Gut gemacht! Ja, Anna mag ihre Desserts."
Im Hintergrund schmeissen einige andere Greise mit Kartoffelpüree um sich, und ich weiss: Nö, Pflege ist kein Job für mich.