Gast
2004-04-27, 15:21:18
"Ein Drittel der Jungen droht abzurutschen"
[i]Schon mit sechs Jahren den eigenen Fernseher im Kinderzimmer, den ganzen Tag Videospiele und Internet - "Medienverwahrlosung" nennt das der Kriminologe Christian Pfeiffer und ruft Eltern wie Schulen auf, energisch gegenzusteuern. Besonders große Sorgen machen Experten sich über Desinteresse und Gewaltbereitschaft der Jungen.[i]
Aus http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,297115,00.html
DPA
Kriminologe Pfeiffer: "Lust aufs Leben wecken"
Zwei Jahre nach dem Schulmassaker von Erfurt ist der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer mit einer auf den ersten Blick ungewöhnlichen Forderung an die Öffentlichkeit gegangen: Deutschland brauche mehr Ganztagsschulen, um die zunehmende "Medienverwahrlosung" einzudämmen, die ihrerseits wieder zu Gewalttaten wie in Erfurt führen könne.
Jeder dritte Junge drohe "in die Falle von Fernsehen, Internet und Videospielen" abzurutschen, sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen am Montag. Die Folge seien schlechtere schulische Leistungen, und aus Frust darüber wiederum komme es zu Gewalttätigkeiten. Wenn man die Ferienzeiten mit berücksichtige, sitzen in Deutschland nach seinen Angaben Kinder und Jugendliche mehr vor dem Bildschirm als in der Schule. In Ländern mit Ganztagsschulen sei dieses Verhältnis zwangsläufig anders. Allerdings müssten die Schulen am Nachmittag mit vielfältigen sportlichen und kulturellen Veranstaltungen "Lust aufs Leben wecken".
Bis zu sechseinhalb Stunden am Bildschirm
Als Beispiel für übermäßigen Medienkonsum nannte der Kriminologe Untersuchungen zu den Jugendlichen, die in Niedersachsen Mitschüler vor laufender Videokamera gequält hatten - bis zu sechseinhalb Stunden hätten sie pro Tag vor dem Bildschirm verbracht. "Die Ohnmacht des eigenen, armseligen Lebens erweckt den Wunsch nach Machtgefühlen", erklärte Pfeiffer die Gewalttätigkeiten.
DDP
Gutenberg-Gymnasium in Erfurt: "Problem im Zentrum der Gesellschaft"
Allein in den vergangenen 13 Jahren sei der Anteil der Jungen an den Schulabbrechern von 48 auf 64 Prozent angestiegen. Auch bei den Kindern, die eine Klasse wiederholen müssen, ist der Anteil der Jungen mit 60 Prozent deutlich überproportional, wie Pfeiffer sagte: "In allen Belangen sind die Jungen im Abdriften."
Bei der Arbeit der Schulpsychologen spiegelt sich diese auffällige Geschlechterverteilung zu Ungunsten der Jungen schon seit Jahren wider: "Jungen haben ein mindest doppelt, wenn nicht dreifach höheres Risiko, im klassischen Sinne verhaltensauffällig zu werden", sagte Bernd Jötten, Vorsitzender der Sektion Schulpsychologen im Berufsverband Deutscher Psychologen. Die Beratungen wiesen darauf hin, dass es Jungen deutlich schwerer hätten, ihre Identität zu entwickeln und zu finden als früher.
DDP
Nach Erfurt stark umstritten: Videospiel Counterstrike
Während Mädchen auf Probleme nach innen gerichtet reagierten, etwa mit psychosomatischen Störungen, verarbeiteten sie Jungen deutlich mehr nach außen gerichtet, auch mit Gewalt, erklärte der Dresdner Schulforscher Wolfgang Melzer. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Gewaltprävention liege damit auf der Hand: "Wer sich abweichend verhält, kann auch keine fachlichen Leistungen bringen." Gerade heute sei die Betonung der mangelnden Kompetenzentwicklung auch, aber nicht nur der männlichen Kinder und Jugendlichen das "schlagkräftigste Argument" für vorbeugende Maßnahmen gegen Gewalt.
Die Ursachen der Gewalt an Schulen seien eigentlich hinreichend bekannt, erklärte Melzer, dessen gerade erst erschienene Studie "Gewaltprävention und Schulentwicklung" auch neueste internationale Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO verarbeitete. Dabei gebe es vier grundlegende Bereiche - neben exzessivem, die Hemmschwelle senkendem Medienkonsum auch problematische Familienverhältnisse, schwierige Beziehungen zu Gleichaltrigen und schulische Probleme.
"Problem im Zentrum der Gesellschaft"
Über die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen, für die derzeit ein vollkommen unübersichtlicher Markt entstehe, sei dagegen kaum etwas bekannt, erklärte der Dresdner Professor. Den Schulen riet er angesichts dieser Vielfalt, zunächst einmal die spezifische Problemlage zu analysieren. Hilfreich seien beispielsweise Untersuchungen einer Klasse, die das Beziehungsgeflecht und damit auch die Außenseiter und möglichen Täter und Opfer aufzeigen könnten. Dabei könnten Schülerpatenschaften und Thematisierung im Ethik- oder Englischunterricht mit Filmen wie Michael Moores "Bowling for Columbine" helfen, Verständnis für andere zu entwickeln.
IN SPIEGEL ONLINE
Drastische Plakat-Kampagne: "Ich schlage dir die Fresse ein" (15.03.2004)
5. Jahrestag des Massakers: Mindestens 17 Schul-Schießereien seit Columbine (22.04.2004)
Gewalt in der Schule: Wer mit Prügel droht, der fliegt (21.04.2004)
Kulturkampf um Erfurt-Buch: Schuld hat, wer schießt [€] (27.01.2004)
Tatort Schule: Wie Psychologen weitere Bluttaten verhindern wollen [€] (31.10.2002)
Milliardenprojekt Ganztagsschule: Die große Illusion [€] (21.02.2003)
Debatte: Böse Buben, kranke Knaben [€] (07.10.2002)
Behörden und Institutionen sollten ebenso wie die Eltern und Schüler mit einbezogen werden. Fachliche Beratung beispielsweise von Schulpsychologen sei wichtig. Doch dürfe das Problem nicht nur an Profis abgewälzt werden: "Das Problem ist im Zentrum der Gesellschaft."
Auch Professor Pfeiffer rief die Eltern zum Handeln auf. Sie sollten stärker ihre Erziehungsaufgabe wahrnehmen und nicht schon jungen Kindern "alle Gerätschaften ins Zimmer stellen und hoffen, dass alles gut geht". Jeder vierte Sechsjährige habe bereits einen eigenen Fernseher zur Verfügung: "Damit unterlaufen die Eltern den Jugendschutz", so der ehemalige niedersächsische Justizminister. Neben schlechteren Schulnoten provozierten Eltern damit eine soziale Verarmung und gesundheitliche Schäden wegen mangelnder Bewegung.
Von Angelika Bruder, AP
[i]Schon mit sechs Jahren den eigenen Fernseher im Kinderzimmer, den ganzen Tag Videospiele und Internet - "Medienverwahrlosung" nennt das der Kriminologe Christian Pfeiffer und ruft Eltern wie Schulen auf, energisch gegenzusteuern. Besonders große Sorgen machen Experten sich über Desinteresse und Gewaltbereitschaft der Jungen.[i]
Aus http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,297115,00.html
DPA
Kriminologe Pfeiffer: "Lust aufs Leben wecken"
Zwei Jahre nach dem Schulmassaker von Erfurt ist der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer mit einer auf den ersten Blick ungewöhnlichen Forderung an die Öffentlichkeit gegangen: Deutschland brauche mehr Ganztagsschulen, um die zunehmende "Medienverwahrlosung" einzudämmen, die ihrerseits wieder zu Gewalttaten wie in Erfurt führen könne.
Jeder dritte Junge drohe "in die Falle von Fernsehen, Internet und Videospielen" abzurutschen, sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen am Montag. Die Folge seien schlechtere schulische Leistungen, und aus Frust darüber wiederum komme es zu Gewalttätigkeiten. Wenn man die Ferienzeiten mit berücksichtige, sitzen in Deutschland nach seinen Angaben Kinder und Jugendliche mehr vor dem Bildschirm als in der Schule. In Ländern mit Ganztagsschulen sei dieses Verhältnis zwangsläufig anders. Allerdings müssten die Schulen am Nachmittag mit vielfältigen sportlichen und kulturellen Veranstaltungen "Lust aufs Leben wecken".
Bis zu sechseinhalb Stunden am Bildschirm
Als Beispiel für übermäßigen Medienkonsum nannte der Kriminologe Untersuchungen zu den Jugendlichen, die in Niedersachsen Mitschüler vor laufender Videokamera gequält hatten - bis zu sechseinhalb Stunden hätten sie pro Tag vor dem Bildschirm verbracht. "Die Ohnmacht des eigenen, armseligen Lebens erweckt den Wunsch nach Machtgefühlen", erklärte Pfeiffer die Gewalttätigkeiten.
DDP
Gutenberg-Gymnasium in Erfurt: "Problem im Zentrum der Gesellschaft"
Allein in den vergangenen 13 Jahren sei der Anteil der Jungen an den Schulabbrechern von 48 auf 64 Prozent angestiegen. Auch bei den Kindern, die eine Klasse wiederholen müssen, ist der Anteil der Jungen mit 60 Prozent deutlich überproportional, wie Pfeiffer sagte: "In allen Belangen sind die Jungen im Abdriften."
Bei der Arbeit der Schulpsychologen spiegelt sich diese auffällige Geschlechterverteilung zu Ungunsten der Jungen schon seit Jahren wider: "Jungen haben ein mindest doppelt, wenn nicht dreifach höheres Risiko, im klassischen Sinne verhaltensauffällig zu werden", sagte Bernd Jötten, Vorsitzender der Sektion Schulpsychologen im Berufsverband Deutscher Psychologen. Die Beratungen wiesen darauf hin, dass es Jungen deutlich schwerer hätten, ihre Identität zu entwickeln und zu finden als früher.
DDP
Nach Erfurt stark umstritten: Videospiel Counterstrike
Während Mädchen auf Probleme nach innen gerichtet reagierten, etwa mit psychosomatischen Störungen, verarbeiteten sie Jungen deutlich mehr nach außen gerichtet, auch mit Gewalt, erklärte der Dresdner Schulforscher Wolfgang Melzer. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Gewaltprävention liege damit auf der Hand: "Wer sich abweichend verhält, kann auch keine fachlichen Leistungen bringen." Gerade heute sei die Betonung der mangelnden Kompetenzentwicklung auch, aber nicht nur der männlichen Kinder und Jugendlichen das "schlagkräftigste Argument" für vorbeugende Maßnahmen gegen Gewalt.
Die Ursachen der Gewalt an Schulen seien eigentlich hinreichend bekannt, erklärte Melzer, dessen gerade erst erschienene Studie "Gewaltprävention und Schulentwicklung" auch neueste internationale Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO verarbeitete. Dabei gebe es vier grundlegende Bereiche - neben exzessivem, die Hemmschwelle senkendem Medienkonsum auch problematische Familienverhältnisse, schwierige Beziehungen zu Gleichaltrigen und schulische Probleme.
"Problem im Zentrum der Gesellschaft"
Über die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen, für die derzeit ein vollkommen unübersichtlicher Markt entstehe, sei dagegen kaum etwas bekannt, erklärte der Dresdner Professor. Den Schulen riet er angesichts dieser Vielfalt, zunächst einmal die spezifische Problemlage zu analysieren. Hilfreich seien beispielsweise Untersuchungen einer Klasse, die das Beziehungsgeflecht und damit auch die Außenseiter und möglichen Täter und Opfer aufzeigen könnten. Dabei könnten Schülerpatenschaften und Thematisierung im Ethik- oder Englischunterricht mit Filmen wie Michael Moores "Bowling for Columbine" helfen, Verständnis für andere zu entwickeln.
IN SPIEGEL ONLINE
Drastische Plakat-Kampagne: "Ich schlage dir die Fresse ein" (15.03.2004)
5. Jahrestag des Massakers: Mindestens 17 Schul-Schießereien seit Columbine (22.04.2004)
Gewalt in der Schule: Wer mit Prügel droht, der fliegt (21.04.2004)
Kulturkampf um Erfurt-Buch: Schuld hat, wer schießt [€] (27.01.2004)
Tatort Schule: Wie Psychologen weitere Bluttaten verhindern wollen [€] (31.10.2002)
Milliardenprojekt Ganztagsschule: Die große Illusion [€] (21.02.2003)
Debatte: Böse Buben, kranke Knaben [€] (07.10.2002)
Behörden und Institutionen sollten ebenso wie die Eltern und Schüler mit einbezogen werden. Fachliche Beratung beispielsweise von Schulpsychologen sei wichtig. Doch dürfe das Problem nicht nur an Profis abgewälzt werden: "Das Problem ist im Zentrum der Gesellschaft."
Auch Professor Pfeiffer rief die Eltern zum Handeln auf. Sie sollten stärker ihre Erziehungsaufgabe wahrnehmen und nicht schon jungen Kindern "alle Gerätschaften ins Zimmer stellen und hoffen, dass alles gut geht". Jeder vierte Sechsjährige habe bereits einen eigenen Fernseher zur Verfügung: "Damit unterlaufen die Eltern den Jugendschutz", so der ehemalige niedersächsische Justizminister. Neben schlechteren Schulnoten provozierten Eltern damit eine soziale Verarmung und gesundheitliche Schäden wegen mangelnder Bewegung.
Von Angelika Bruder, AP