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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Vorgestern in unserer Zeitung (PC Spiele und Gewalt)


Maki
2005-07-14, 11:15:19
Mit den Monstern kamen die Tränen
Von Oliver Reinhard

Gegen Verdummung von Tatort & Co.: die Tagung ?Ernstfall Computerspiel? im Hygiene-Museum.

Sascha hat?s schwer. Die Eltern verstehen sich nicht mehr, die anderen Lehrlinge grenzen ihn aus, der Sportschützenverein lässt ihn längst kalt. Freunde? Fehlanzeige! Also flüchtet der Junge mit seinen Problemen aus dem echten Leben ins künstliche, in die virtuelle Realität eines Computerspiels. Dort übt Sascha Tötungsstrategien ein, die er dann per Gewehr ?in echt? exekutiert; er wird zum Killer.

So überzeugend simpel, so massenwirksam und so gefährlich platt ist die Ballerspiel-?Theorie?, die Regisseur und Autor Torsten Näter am Sonntag via ARD-Tatort ?Todesengel? präsentierte: das Computerspiel als direktes Tor zur realen Gewalt. Seine gebührenfinanzierte Verdummung war zugleich ein Beispiel dafür, wie gutwillig, aber fahrlässig, wie ahnungs- und hilflos Unterhaltungs- und Infomedien oft mit dem heiklen Thema umgehen, seit sie der tödliche ?Amoklauf? des Erfurter Ballerspielers Robert Steinhäuser 2002 aufschreckte.

Kriegsspiel Schach

Weniger hysterisch denn aufklärerisch ging es zu beim Schritt in die Gegenrichtung auf dem Forum ?Ernstfall Computerspiel? am Wochenende im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, organisiert vom Bochumer Medienwissenschaftler Claus Pias und Christian Holtorf vom Museum. Das Alter der geladenen Experten ? zumeist maximal um die 40 ? deutete zumindest an, dass sie den Interessensgegenstand aus eigenem interaktiven Erleben kennen und schon mit ihnen aufwuchsen. Anders als das Gros der Eltern mit Kindern im Daddel-Alter und der maßgeblichen Medienvertreter. Sie durchleuchteten das Phänomen aus allen theoretisch-analytischen Himmelsrichtungen und nahmen ihm viel von seiner oft behaupteten Besonderheit.

Zum Beispiel im Diskurs um die (einhellig bejahte) Frage, ob der Mensch nicht von Natur aus spielendes Wesen und jede Gesellschaft eine von Spielern sei. Ausführlich wies Publizist Florian Rötzer darauf hin, dass Spiele seit Urzeiten zum menschlichen Miteinander gehören. Als Spielwiese der Realität, ihr ?Übungsplatz?. Selbst der Arbeitswelt, nachgerade bei der Steuerung komplexer Industrieanlagen per PC und Monitor, attestierte der Soziologe Fritz Böhle wesentliche spielerische Elemente.

Im Gegensatz zur Realität aber besitzen reine Spiele laut Rötzer ein ungleich festeres Regelwerk und konstruieren chancengleiche Gegnerschaften. Selbst Go und Schach sind letztlich hoch abstrakte Strategie- und Kriegsspiele mit nützlichen Lerneffekten. Unter anderem in Bezug auf vorausschauendes, verantwortungsvolles und team-orientiertes Denken.

Doch haben sich die Grenzen zwischen online und offline längst verwischt. Am deutlichsten, wenn unbemannte Kampfflugzeuge am Computer ferngesteuert werden. Oder Jäger übers Internet mit echten Gewehren echte Rehe töten. In den Computerspielen selbst ging es noch in den Siebzigern zumeist um bloße Aneignung virtueller Räume, wie Medienwissenschaftler Mathias Mertens aufzeigte. Erst mit ?Pac-Man? und dessen Monstern sei er 1980 feindliches Umfeld geworden, in dem man sich behauptet ? oder sterben muss. Eine Grundkonstellation, an der sich bis zu den ausdifferenzierten anspruchsvollen und gewalthaltigen Ballerspielen wie ?Counter Strike?, ?Far Cry? oder ?Doom 3? nichts geändert hat, um die sich die aktuelle öffentliche Debatte dreht: Wie wirken sich virtuelle Handlungsmuster auf den Spielfeldern der Gesellschaft aus? Genauer: Wann und unter welchen Umständen schlägt virtuell ausgeübte Gewalt in reale um? Hier machte sich eine gewisse Einseitigkeit bei der Forumsbesetzung bemerkbar: viel Medienwissenschaft und Spiel, aber wenig Pädagogik und Psychologie ? und Wirkung.

Der Münchner Psychologe Rolf Oerter wies zwar darauf hin, dass auch Computerspiele eine wichtige entwicklungspsychologische Funktion haben, andererseits aber zu Realitätsflucht und zu viel Gewöhnung an Ersatzbefriedigung führen können. Doch hatte er offenbar zu wenig Ahnung von Games und vermochte den leider verhinderten Medienpädagogen Jürgen Fritz nicht wirksam zu vertreten.

So musste man sich dessen Kernmeinung hinzudenken: Brutale Spiele können wie im Falle Robert Steinhäuser eine Tendenz zur Gewalt bei Jugendlichen durchaus verstärken ? aber eben nur eine schon vorhandene Bereitschaft dazu. Spiele allein sind laut Fritz keinesfalls Ursache für den Hang zur Gewalt. Vorsichtiger ist da Ulrike Pilarczyk von der Unterhaltungssoftware-Selbstkontrolle: ?Was da alles an Faktoren zusammenkommen muss, bis ein spielendes Kind gewalttätig wird, ist von der Wirkungsforschung noch lange nicht hinreichend untersucht worden.?

Verzerrte Erwachsenen-Sicht

Es ließe sich festhalten, dass selbst Ballerspiele für halbwegs normal sozialisierte Kinder weniger Gefahr sind denn ?wünschenswerte Verlegung von Gewaltimpulsen aus der realen in die virtuelle Welt?, wie Claus Pias vermutend formulierte. Dieser Perspektive steht indes die in der Regel ?verzerrte Sicht? (Pilarczyk) der meisten Eltern und Erzieher aufs virtuelle Spiele-Universum im Weg, das sie weder kennen noch mögen noch verstehen und eher aus unkenntnisbedingter Angst als gutem Grund ablehnen. Und fälschlicherweise pauschal für einen Ort verschwendeter Zeit halten, dumpf, gefährlich, unsozial.

Andererseits verfügt auch der Gesetzgeber noch immer nicht über geeignete Maßnahmen, allzu brutale Spiele von potenziell gefährdeten Menschen fernzuhalten. Die Altersfreigabe hat zweifellos ihren Sinn. Gleichwohl dürfte ein 14-Jähriger mit intaktem Umfeld und der Fähigkeit zur sauberen Trennung von virtuell und real wesentlich weniger gefährdet sein als ein 28-jähriger aggressiver Autist.

Immerhin schlägt sich diese Hilflosigkeit mitunter auch ohne Verteufelung massenmedial nieder. In ?Ein Fall für Stubbe? fragte am Sonnabend der Vater eines aus Not zum Totschläger gewordenen Jungen ratlos: ?Vielleicht liegt?s ja auch an der Glotze oder an Computerspielen? Das sagen sie doch immer.? Auf dem PC-Bildschirm im Hintergund flimmerte noch ein Spiel des Jungen. Es war Schach.




Ich finde es gut, mal was auserhalb der "PC-Spieler sind potentielle Amokläufer" Schiene zu lesen. Und, was denkt ihr?