Heimatsuchender
2005-12-22, 22:08:38
Da fällt mir jetzt nur "Eleonora" von Edgar Allen Poe ein.
ELEONORA
Ich stamme aus einem Geschlecht, das durch kraftvolle Phantasie und heiße 
Leidenschaftlichkeit ausgezeichnet ist. Die Menschen 
haben mich einen Wahnsinnigen genannt; aber es ist noch Frage, ob der Wahnsinn 
nicht die höchste Stufe der Geistigkeit bedeutet, 
ob nicht vieles Glorreiches und alles Tiefe seinen Ursprung in einer 
Krankhaftigkeit des Gedankens, in dem besonderen Wesen 
eines Zustandes hat, der auf Kosten des allgemeinen verstandes aufs äußerste, 
und zwar einseitig, erregt ist. Die Menschen, 
die am hellen Tage träumen, lernen Dinge kennen, die denen entgehen müssen, 
die nur nachts träumen. Durch den grauen Nebel 
ihrer Visionen dringen die ersten Lichtschimmer der Ewigkeit zu ihnen, und 
halb erwachend fühlen die mit Schaudern, dass sie 
einen Augenblick lang an das große Geheimnis gerührt haben. Ruckweise erfassen 
sie einiges von der Weisheit, die gut, und 
vieles von der Erkenntnis, die böse ist. Sie dringen ohne Ruder und Kompaß auf 
den ungeheuren Ozean des >unaussprechlichen 
Lichtes< vor, und wieder, wie in den Abenteuern des nubischen Geographen, 
>agressi sunt mare tenebrarum, quid in eo esset 
exploraturi<. 
Bleiben wir also dabei: ich bin wahnsinnig. Dennoch erkenne ich deutlich zwei 
unterscheidbare Zustände meines geistigen Seins: 
den Zustand vollständig klaren, nicht anzuzweifelnden Verstandes, der sich auf 
die Erinnerung aller Ereignisse erstreckt, 
welche die erste Epoche meines Lebens bildeten – und den umdunkelten Zustand 
voller Zweifel, in den meine Seele jetzt versunken 
ist und der alle Erinnerungen an Begebenheiten aus der zweiten großen Epoche 
meines Lebens betrifft. Glauben Sie also alles, 
was ich Ihnen von der ersten Periode erzähle, und von er zweiten nur das, was Ihnen glaubwürdig erscheint. Oder zweifeln Sie 
ruhig alles an; sollten Sie dies aber nicht können, so spielen Sie wenigstens Ödipus vor dem Rätsel der Sphinx um meiner Seele. 
Sie, die ich in meiner Jugend liebte und der zum Andenken ich dies hier niederschreibe, war die Tochter der einzigen Schwester 
meiner Langverstorbenen Mutter und hieß Eleonora. Im Tal des Vielfarbigen Grases, unter tropischer Sonne, hatten wir immer 
zusammengewohnt. Niemals betrat ein Fremder das Tal, denn es lag verborgen 
zwischen einer Kette gigantischer Berge, die von 
allen Seiten seines Frieden umhegten und seine köstlichen Schlupfwinkel vor dem Brand der Sonne beschützten. Kein begangener 
oder gangbarer Pfad führte hinein; um von außen in unser glückliches Heim zu 
gelangen, hätte man das Geäst von vielen tausend 
Waldbäumen durchbrechen und die Schönheit unzähliger duftiger Blumen dem Tode 
weihen müssen. So lebten wir also ganz allein 
und kannten nichts von der Welt außerhalb des Tales – ich, meine Cousine und 
Mutter. 
Aus den nebelhaften Regionen der höchsten Bergspitzen, die unser Reich so gut 
verschlossen, wand sich ein schmaler, tiefer 
Fluß hervor, der glänzender schien als alles um uns her – es sei denn, man 
hätte in Eleonorens Augen gesehen. Er schlängelte 
sich in zahlreichen Krümmungen durch das Tal und entschlüpfte dann in eine 
finstere Bergschlucht, in Felsspalten, die in noch 
dichterem Nebel lagen als die, aus denen er hervorgetreten. Wir nannten ihn 
den >Fluß des Schweigens<, denn eine große Beruhigen 
schien von seinen Fluten auszugehen. Kein Murmeln stieg aus seinen Wellen 
hervor; er glitt so sanft dahin, dass die perlgleichen 
Sandkörner tief unten in seinem Schoße, die wir so gern betrachten, sich nicht 
bewegten, sondern in ruhevollem Glück an ihrem 
Platz liegen blieben und in immerwährendem Glanz erstrahlten. 
Das Ufer des Flusses und der vielen schimmernden Bäche, die auf verschlungenen 
Wegen seinem Bette zuströmten, der ganze Raum 
vom Ufer bis zum Kieselsteingrunde in der klaren Tiefe, ja die ganze 
Oberfläche des Tales vom Fluß bis an die Bergwände war 
mit zartgrünen, dichtem, gleichmäßigem Rasen bedeckt, der vanillesüß duftete 
und mit gelben Ranunkeln, weißen Gänseblümchen, 
purpurnen Veilchen und rubinroten Asphodelen übersät war, so dass seine 
wunderbare Schönheit in unseren Herzen ein Loblied 
auf die Liebe und Herrlichkeit Gottes anstimmte. Und hier und da, 
Traumseltsamkeiten gleich, erhoben sich auf dem Rasen phantastische 
Bäume, deren schlanke Stämme nicht aufrecht standen, sondern sich dem Licht 
zuwandten, das zur Mittagszeit in die Mitte des 
Tales fiel. Ihre ebenholzfarbene Rinde war silbergesprenkelt und weicher als 
alles – es sei denn man hätte Eleonorens Wangen 
gefühlt. Ohne die glänzenden, grünen, riesigen Blätter, die in zitternden 
Linien von ihrem Gipfel herabhingen und mit dem 
Zephyr spielten, hätte man sie für ungeheure syrische Schlangen gehalten, die 
der Sonne, ihrer Herrscherin, Huldigung darbrachten. 
Eleonora und ich streiften fünfzehn Jahre lang Hand in Hand in dem Tal umher, ehe die Liebe in unseren Herzen einzog. Eines 
Abends, gegen Ende des dritten Lustrums ihres Lebens und im vierten des meinigen, saßen wir innig umschlungen unter den Schlangenbäumen 
und betrachteten unser Bildnis, das der >Fluß des Schweigens< widerspiegelte. Wir sprachen an diesem köstlichen Abend kein 
Wort, und auch am folgenden Morgen war unsere Rede noch zitternd und zögernd. Gott Eros war aus den Wellen zu uns heraufgestiegen, 
und wir fühlten, dass er die feurige Seele unserer Vorväter in uns entzündet 
hatte. Die Leidenschaftlichkeit und die blühende 
Kraft der Phantasie, die Jahrhunderte lang unser Geschlecht ausgezeichnet, kam 
über uns und hauchte ein Übermaß von Seligkeit 
durch das Tal der Vielfarbigen Grases. Alle Dinge veränderten sich. Seltsame, 
leuchtende, sterngestaltete Blumen brachen an 
Bäumen auf, an denen wir bis dahin nie Blumen bemerkt hatten. Die Tinten des 
grünen Teppichs vertieften sich, die weißen Gänseblümchen 
verschwanden, eins nach dem anderen, und an der Stelle eines jeden schossen je 
zehn rubinrote Asphodelen auf. Und Leben erhob 
sich auf unseren stillen Pfaden, denn der große Flamingo, den wir bis dahin 
noch nie gesehen, und zahllose muntere, leuchtend 
beschwingte Vögel entfalteten ihr strahlendes Gefieder. Gold- und Silberfische 
durchschossen den Fluß, aus dessen Schoß nach 
und nach ein Flüstern herauf klang, das zu einer sanften, wiegenden Melodie 
anschwoll, die himmlischer tönte als der Gesang 
der Äolsharfe, süßer als alles – es sei denn, man hätte Eleonorens Stimme 
gehört. Es kam auch eine ungeheure Wolke heran, 
die wir schon lange in Hesperus` Gebiet beobachtet hatten. Es rieselte in ihr 
von goldenem und purpurnen Lichte – gerade über 
uns blieb sie stehen und senkte sich Tag für Tag tiefer, bis sie auf den 
Spitzen der Berge ruhte, ihre Düsterkeit in Glanz 
verwandelte und uns unten im Tal des Vielfarbigen Grases wie in einem Schloss 
voll zauberhafter Herrlichkeit gefangen hielt. 
Eleonorens Schönheit war die der Seraphim; doch war sie einfach und natürlich 
und unschuldig, wie das kurze Leben, das sie 
unter den Blumen unseres Tales geführt hatte. Keine Künstlichkeit verbarg die 
Glut der Liebe, die ihr Herz empfand – dieses 
Herz, dessen geheimste Verborgenheit sie mir enthüllte, wenn wir zusammen 
umherstreiften und über die machtvollen Veränderungen 
sprachen, die sich in so kurzer Zeit in unserem Tal vollzogen hatten. 
Eines Tages, als wir von jener letzten traurigen Veränderung sprachen, die 
alle Menschen erdulden müssen, ließ sie von diesem 
schmerzvollen Thema nicht mehr ab und wusste es in jeder Wendung unseres 
Gespräches zu bringen...  Sie fühle wohl, dass der Finger 
des Todes ihre Brust berührt hatte – gleich dem Lebens der Eintagsfliege hatte 
sich ihre Schönheit nur entfaltet, um zu sterben; 
doch alle Schrecken des Todes waren für sie in dem einen Gedanken enthalten, 
von dem sie eines Abends im Zwielicht an den 
Ufern des Flusses zu mir gesprochen hatte. Es bereitete ihr Kummer, zu denken, 
dass ich, wenn ich sie im Tal des Vielfarbigen 
Grases begraben hätte, diese selige Stätte auf immer verlassen und die 
leidenschaftliche Liebe, die jetzt ihr galt, einer 
Tochter der äußeren, alltäglichen Welt schenken werde. Doch ich warf mich ihr 
zu Füßen und schwor ihr und dem Himmel einen 
Eid, dass ich niemals ein Kind der Welz zur Ehe nehmen wolle, dass ich niemals 
ihrem Angedenken und der Erinnerung an die 
heiße Liebe, mit der sich mich beseligt, abtrünnig werden werde. Ich rief den 
allmächtigen Herrscher der Welt zum Zeugen der 
frommen Feierlichkeit meines Gelübdes an. Und der Fluch, den ich von ihm und 
von ihr – der Heiligen im Paradies – auf mich 
herabrief, sollte ich mein Gelöbnis brechen, schloß eine so schauerliche 
Strafe in sich, dass ich ihn nicht niederzuschreiben 
vermag. Bei meinen Worten erglänzten Eleonerens Augen in höherem Licht; sie 
seufzte auf, als sei ihr eine tödliche Last vom 
Herzen genommen, sie zitterte und weinte bitterlich, doch nahm sie meinen Eid 
entgegen...  Sie war ja noch ein Kind, und ich 
weiß: dieser Eid hat ihr das Sterben leichter gemacht. 
Wenige Tage später, als sich der Tod ihrem Lager schon näherte, sagte sie mir, 
dass sie zum Dank für das, was ich für die 
Ruhe ihrer Seele getan habe, mit dieser selben Seele nach dem Tode über mich 
wachen werde. Sie wolle wiederkommen und mir 
des Nachts sichtbar erscheinen. Doch wenn dies über die Macht der Seelen im 
Paradies hinausginge, so wollt sie mir wenigstens 
Andeutungen ihrer Gegenwart geben. Sie werde mit dem Abendwind um mich seufzen 
und die Luft, die mich umwehe, mit dem Dufte 
der himmlischen Weihrauchschalen erfüllen. Mit solchen Worten auf den kindlich 
unschuldigen Lippen verschied sie. 
Bis hierher hab ich wahrheitsgetreu erzählt. Aber da ich die Grenzlinie, die 
der Tod meiner Geliebten auf meinen Lebenspfad 
gezogen hat, überschreite und zur zweiten Periode meines Daseins komme, fühle 
ich, dass eine Wolke mein Gehirn umschattet 
und dass ich selbst nicht mehr an die vollständige Gesundheit meines Gedächtnisses zu glauben vermag. Doch ich will fortfahren. 
  
Jahre schleppten sich langsam vorüber, und ich wohnte noch immer im Tal des 
Vielfarbigen Grades. Aber eine zweite Veränderung 
war vor sich gegangen. Die sterngestalteten Blüten hatten sich in die Rinde 
der Bäume zurückgezogen und kamen niemals mehr 
hervor. Die Tinten des grünen Teppichs verblassten, die rubinroten Asphodelen verwelkten eine nach der anderen, und an der 
Stelle einer jeden erblühten zehn dunkle Veilchen, die wie weinende Augen im 
Tau erglänzten. Das Leben verschwand von unseren 
Pfaden, denn niemals mehr breitete der große Flamingo sein Scharlachgefieder 
vor uns aus; traurig zog er sich aus dem Tal 
in die Berge zurück und all die munteren Vögel mit ihm. Die Silber- und 
Goldfische flohen in die Schlucht an der Grenze unseres 
Reiches und schimmerten nie wieder durch die schönen Wasser des Flusses. Und 
seine zärtliche Musik, die süßer gewesen war 
als die der Äolsharfen, als alles, ausgenommen Eleonorens Stimme, erstarb nach 
und nach in Murmeln, bis auch dieses ganz verstummte 
und der Fluß wieder mit der Feierlichkeit seines ursprünglichen Schweigens 
dahinrollte. Endlich erhob sich auch die große 
Wolke und gab die Gipfel der Berge ihrer alten Finsternis zurück. Sie glitt 
wieder in Regionen des Hesperus und raubte dem 
Tal des Vielfarbigen Grases seinen purpurgoldenen Glanz. 
  
Doch Eleonora hatte ihr Versprechen nicht vergessen. Ich hörte, wie Engel um 
mich her Weihrauchschalen schwangen und fühlte 
Ströme heiligen Duftes das Tal durchfluten; und in einsamen Stunden, wenn mein 
Herz laut schlug, trugen die Winde, die meine 
Stirne badeten, weiche Seufzer zu mir her. Leises Flüstern erfüllte oft nachts 
die Luft, und einmal – ach, nur einmal – erwachte 
ich aus meinen Schlummer, der tief gewesen war wie ein Todesschlaf, weil zwei 
unirdische Lippen die meine berührt hatten... 
Aber dies alles konnte die Leere meines Herzens nicht füllen. Es verlangte 
wieder nach der Liebe, von der es vorher so übervoll 
gewesen. Im Laufe der Zeit quälte mich der Aufenthalt im Tal, in dem mich 
alles an Eleonora erinnerte, und ich vertauschte 
es für immer gegen die Eitelkeiten und friedlosen Freuden der Welt. 
Ich fand mich in einer fremden Welt Stadt, in der alle Dinge wie geschaffen 
waren, mich die Träume, di eich so lange im Tal 
des Vielfarbigen Grases geträumt hatte, vergessen zu machen. Der Pomp und das 
üppigeWesen eines reichen Hofes, berauschendes 
Waffengetön, die strahlende Schönheit der Frauen – all dies blendete mich und 
machte meinen Geist trunken. Doch war meine 
Seele bis jetzt ihrem Gelübde treu geblieben, und immer noch gab mir Eleonora 
in den stillen Stunden der Nacht Anzeichen ihrer 
Gegenwart. Plötzlich hörten diese Zeichen auf, die Welt wurde schwarz vor 
meinen Augen, und ich stand erschrocken – erschrocken 
über die glühenden Gedanken, die in mir erwachten, über die Gewalt der 
schrecklichen Versuchung, die mich anfiel. Aus einem 
fernen, fernen, unbekannten Land kam ein Mädchen an den Hof des Königs, dem 
ich diente. Ihrer Schönheit ergab sich mein abtrünniges 
Herz im ersten Augenblick, da ich sie sah...  Ohne Widerstand warf ich mich in 
heißer, abgöttischer Liebe vor die Schemel ihrer 
Füße nieder. Was waren meine Gefühle zu dem jungen Mädchen, das im Tal des 
Vielfarbigen Grases begraben lag, im Vergleich 
zu der Glut, dem Übermaß und Überschwang der wilden, ganz selbstvergessenen 
Anbetung, mit der ich meine Seele vor dieser anderen 
ausströmte! O herrlich, herrlich war Ermengard! Sie, an der ich jetzt mit 
jedem meiner Gedanken hing! Und wenn ich in die 
Tiefen ihrer heißen, seltsamen Augen blickte, war Eleonora vergessen. Ich 
vermählte mich mit Ermengard und fürchtete den Fluch 
nicht, den ich auf mich herabrief. 
Da, einmal wieder, im Schweigen der Nacht, kamen die leisen Seufzer, dich ich 
so lange nicht mehr vernommen, mit dem Winde 
durch mein Fenster und klangen zusammen zu einer vertrauten süßen Stimme, die 
also sprach: >> Schlafe in Frieden! Der Geist 
der Liebe herrscht! Und wenn du Ermengard an dein wildes Herz drückst, bist du 
aus Gründen, die dir im Himmel offenbar werden 
sollen, von deinem Gelübde an Eleonora entbunden... 
tobife
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