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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Musik – Bauchgefühl oder System?


aths
2013-06-24, 11:07:58
Eben, wie ich weiter vorn geschrieben habe: Das alte Diktum von »man muss die Regeln erst kennen, damit man sie beugen oder brechen kann.« Das stimmt, und stimmt gleichzeitig nicht.

Stimmt: Etablierte Regeln zu brechen, die man nicht einmal wahrnimmt, ist keine Revolution sondern Anarchie. Oder wie du sagst: Vom Zufall regiert. Wobei die Aleatorik in der Kunst (besonders Musik) ja durchaus als valider Werkansatz verwendet wird.

Stimmt nicht: Die Regeln kommen nicht aus dem Blauen. Die Gestaltungsregeln sind nicht einfach mal festgelegt worden, nach Logik oder weil wer’s mal durchgerechnet und eine statistische Erhebung gemacht hat. Die Regeln sind organisch gewachsen, lustigerweise aus der Perspektive »Irgendwie gefällt mir das – weshalb eigentlich?« Dass Kunsthistoriker und Ästhetiktheoretiker im nachhinein versuchen, herauszufinden, weshalb z.B. der goldene Schnitt so »cool« ist, dass er in der Evolution der Ästhetik so erfolgreich geblieben ist, und Beispiele aus der Biologie und Populationsgenetik und was weiß ich noch alles bemühen ändert nichts daran – gemacht wurde es vor den ganzen Erklärungen. Also durchaus »aus dem Bauch heraus«.

Um bei deinem Wechsel zur Musik zu bleiben: Überall in der Welt hat sich eine Pentatonik entwickelt, auch ohne dass sich Kulturen berührt hätten. Und weltweit erkennen Menschen – zumindest gefühlt – eine Oktave. Es stimmt zwar, dass die Oktave deshalb wirkt, weil sie eine Verdoppelung der Grundtonfrequenz ist, aber Oktaven gab’s lange vor dem Begriff »Hertz« oder nur schon der Möglichkeit, das auszurechnen oder gar einigermaßen genau zu messen.

Bach hat das wohltemperierte Klavier nicht gepusht, indem er die Frequenzdifferenzen zu den natürlichen Tonarten rechnerisch verschliff. Er hat rumgekurbelt, im wahrsten Sinne des Wortes, bis eine Klavierstimmung in allen Tonarten einigermaßen geklungen hat. Was damals nicht unbedingt den Massengeschmack getroffen hat aber halt praktisch war.


Kurz: Unterschätzt das Bauchgefühl nicht. Denn die meisten Grundregeln, die heute schon fast als Bibel herumgereicht werden entstanden erst nachträglich als »Regeln«, indem die Bauchgefühle erfolgreicher Künstler analysiert wurden. Zuerst war das Werk, dann das Hoppla, dann das Warum? Und nicht zuerst das So, dann das Mach Mal, dann das Hoppla.
Hrr hrr. Ich arbeite an einer Serie, um die Tonleiter zu erklären. Doch zunächst stelle ich dar, was wir haben, also Tonnamen, Oktaven, Notenschrift. Die ersten Videos sind hier: http://www.youtube.com/watch?v=6s_VmxUi6q4&list=PL03UOOvqORn9A2bhMaRao8deKvqUxIq6F

Ein Grund, das zu tun, ist meine Unzufriedenheit mit den Erklärungen die ich kenne. Die Griechen die sich das System mit sieben Stufen überlegten, gingen von der Pentatonik aus. Insofern würde ich die westliche Tonleiter als Erweiterung der Pentatonik sehen und nicht einfach mal aus der Obertonreihe von Prime, Quinte und Quarte den Dur herleiten (Schönberg) oder wild mit Obertönen vs. anderen Obertönen experimentieren (Hindemith.)

Doch wie kommt die Pentatonik zustande? Die meisten Intervalle hier finden sich in der harmonischen Reihe. Obertöne und allgemeine Konsonanz haben ihren Ursprung im selben harmonischen Prinzip, so dass wir eigentlich nicht aus der Obertonreihe die Harmonie herleiten, sondern die Obertonreihe lediglich dem harmonische Prinzip folgt. Das erklären viele Theoretiker leider nur ungenügend. Doch schon in gängigen pentatonischen Leitern findet sich eine Stufe, die man beim besten Willen nicht aus der harmonischen Reihe bekommt.

Das ist wie beim Moll-Dreiklang, der sich auch der Herleitung entzieht (und diese seltsame Stufe mitnutzt, die bereits in der traditionellen Pentatonik auftaucht.) Man muss an einer Stelle sagen "So, und jetzt weiß keiner weiter, doch es ist einfach so. Wir denken uns zur Erklärung das jetzt so-und-so, und dann passt es".


Bach hatte ja den Mut, die Einstimmung seines Cembalos einem Prinzip zu unterwerfen das wichtiger ist, als Intervall-Reinheit. Damit wird es jetzt kompliziert, denn wie seriös ist es heute, Konsonanz aus Intervallen zu schließen? Wir denken doch längst im Zwölftonraum und haben hier ein System geschaffen, dass reinen Intervallen Hohn spricht. Chromatik zum Beispiel ist um 33 Cent verstimmt. Insofern könnte man sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen, wenn dann Theoretiker wie ich angelatscht kommen und das westliche Tonsystem erklären wollen. Und doch sehe ich das heutige System, obwohl mathematisch ein Graus, als eine Glanzleistung menschlichen Intellekts. Was wir heute zum Beispiel an Akkorden nutzen, ist wesentlich komplexer als es die Tonleiter auf den ersten Blick erkennen lässt. Und kann mit Ausnahme vom Dur-Dreiklang nicht mehr mit der Obertonreihe erklärt werden, sondern baut auf der Tonleiter auf.

Für Tonleitern immerhin hätte ich eine Erklärung anzubieten. Es ist die harmonisch verbindende Kraft der Quinte. Mit Quintenstapelung leite ich Pentatonik, modale Diatonik und den Zwölftonraum her. Doch erkläre ich hier oder stülpe ich dann lediglich einem gewachsenen, bewährten System nachträglich eine Deutung über? Und wenn ich dann die Quarte als Oktavinverse der Quinte herleite und den Moll-Akkord als Oktavinverse aller Durintervalle, werde ich dann nicht auch ... esoterisch?

Hier macht man zu schnell Fehler, gaube ich. Riemanns eigentlich exzellente Arbeit zur Funktionsharmonik sieht die Stufe vii° als Dominante (verkürzten Dominantseptakkord.) Da rollen sich mir die Zehnägel hoch, wenn er alles in seine drei Hauptfunktionen pressen will.

Ebenso würde ich ii und iii nicht unbedingt als Mollparallele zu IV und V sehen. Stufe iii halte ich eher für den Gegenklang, ii eher als Doppeldominante. Wobei man Dominanten neuerdings in Dur spielt, während ich sie als fünfte Stufe betrachte, unabhängig welcher Dreiklang dann rauskommt. Was ich aber eigentlich mache, ist mich auf den aeolischen Modus zu beschränken statt den Moll zu nehmen wie er heute benutzt wird.


Doch was Künstlern intuitiv klar ist, lässt sich vermutlich auch rational darstellen. Insofern halte ich Untersuchungen für sinnvoll.

aths
2013-06-26, 09:43:02
Ich zitierte zwar nggalai, aber es kann jeder was dazu schreiben ...

PHuV
2013-06-26, 12:10:15
Beziehst Du Deine Theorie auf den westlichen Kulturkreis, oder umfaßt die Diskussion auch andere mit andere Skalen und Tonleitern?

aths
2013-06-26, 13:44:52
Ich habe noch kein (vollständige) Theorie. Pentatonik kommt/kam ja in diversen Kulturen vor. Unterschiedliche Kulturen gingen unterschiedlich damit um. Auf Java nutzt man eine fast gleichstufige Pentatonik. Die Griechen hatten die "Lücken", also die beiden übergroßen Tonschritte der originalen Pentatonik, mit jeweils einem Ton gefüllt. (Wenn auch umständlich mit der Konstruktion aus zwei Tetrachorden.)

Die Chinesen in ihrer traditionellen Musik blieben bei fünf Tönen, aber nutzten die Leiter in fünf Modi (jeder Ton als Startton, fünf Töne = fünf Modi) und in zwölf Tonhöhen (ähnlich der chromatischen Leiter.)

Die modalen Tonleitern des westlichen Tonsystems haben mit der jeweiligen natürlichen Dur- oder Moll-Tonleiter die entsprechende Dur- oder Moll-Pentatonik gemein. Sie unterscheiden sich also nur in den Stufen, die in der Pentatonik nicht vorkommen.

AtTheDriveIn
2013-06-26, 22:23:07
:up:

Auf die Videos bin ich gespannt. Habe eine Bildungslücke wenn es um Musik geht, da mir jedwede musikalische Ausbildung fehlt. Musikunterricht nur in der Grundschule gehabt und da wurden nur Bilder gemalt, zu Klängen von Bach, Smetana und Co.... Noten, Tonleiter, Takt, Oktave, keinen Plan wie das funktioniert :)

aths
2013-06-26, 22:49:55
Die ersten Videos sind ja schon online. Es geht dort in erster Linie um Namen. Zum Beispiel nenne ich die Stammnoten-Namen, aber sage noch nichts zu den Abständen der Stammnoten untereinander. Bei der Oktave erkläre ich aber auch Prinzipien. Es würde mich interessieren, ob dir die Erklärung einleuchtet oder ob du das Gefühl hast, dass ich an einer Stelle zu schnell zur Schlussfolgerung springe.


Im Moment ist meine Idee für weitere Videos, an Beispielen zu zeigen dass in Melodien nicht jeder Ton gleich oft vorkommt und dass auch nicht jedes Intervall gleich oft vorkommt. Und dass man mit einer Melodie bereits Tonalität schaffen kann. Wie der tonale Kontext erzeugt wird wäre dann Inhalt für noch spätere Videos.

Tonalität bedeutet, einen Ton als tonales Zentrum (Tonika), also Ruhepol zu etablieren. Tonleitern der westlichen Musik bieten sinnvoll zusammengestelltes Tonmaterial, so dass die erste Stufe diese Tonika ist. Im weiteren Sinne kann Tonika auch ein Akkord auf der ersten Stufe sein (oft Dreiklang, im Jazz oft Vierklang) oder im Extremfall die ganze Tonleiter beschreiben. Wenn man erst mal den tonalen Kontext hat, kann man zur Tonika Spannung aufbauen. Oder abbauen. Oder eine Abbau-Erwartung schaffen, aber die Auflösung verzögern. Um das zu raffen, muss jedoch erst mal klar sein wie eine Tonleiter genau funktioniert.

Kleiner Teaser: Konstruiert wird eine Tonleiter im westlichen System nicht aus Tonschritten. Man presst lediglich die fertige Tonleiter in ein Raster aus Ganz- und Halbtonschritten.

aths
2013-07-07, 18:03:23
Nachdem ich zehn Videos zur Einführung machte (Tonnamen, Tonleiter) habe ich heute das erste Video aufgenommen in dem es wirklich losgeht: http://youtu.be/OeUjn9bh_4A