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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Die Trauer würdigen


Surrogat
2019-08-28, 14:20:25
Hallo,

mir ist aufgefallen das der Begriff der Trauer in den letzten Jahren irgendwie immer mehr in Vergessenheit geraten ist bzw. an den Rand gedrängt wurde, das finde ich recht schade, da die Trauer doch eine sinnvolle Funktion beim Menschen erfüllt und daher nicht recht gewürdigt wird.

Jetzt mag man sich denken, wovon redet der da nur, traurig ist doch niemand gerne freiwillig, oder doch?
Nun, natürlich muss man nicht traurig sein, rein um der Trauer willen, das würde ja an depressive Zustände grenzen, bei denen die Trauer zunächst ja keinem sinnvollen Aspekt zuzuordnen ist.
Dennoch erfüllt die Trauer eine wichtige Funktion und zwar die Erdung des Menschen und das besinnen auf Werte die zumeist völlig von der realen Welt abgekoppelt sind.

Scheinbar hat die Trauer aber in unserer nach Freude und Glück gierenden Gesellschaft ihren Stellenwert verloren, keiner mag sie noch offen zeigen geschweige denn darüber reden. Man behandelt diesen Zustand fast als hätte man Pickel oder Mundgeruch, es soll halt keiner merken wenn man traurig ist.

Aber warum ist das so? Ist es nur das gesellschaftliche Phänomen das man sich schwach fühlt wenn man nicht vor lauter Glück strahlt?
Ich für meinen Teil fand Trauer immer sehr interessant, schlicht weil man sie meist eben nicht versteht wenn man nicht den Grund kennt. Und zudem weil sie so sehr ein Teil des Lebens ist, der aber nur zu gerne ignoriert wird.
In der Trauer zeigt der Mensch sein innerstes Seelenleben, meist völlig ungefiltert und ungeschönt. Es ist eine pure Reaktion der Seele und oft genug zeigt sie drastische Konsequenzen, mancher Mensch ändert dadurch dauerhaft sein gesamtes Leben und da liegt für mich genau der Nutzen der Trauer. Einfach mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkommen, zur Basis sozusagen, erkennen was im Leben wirklich zählt und was einem wirklich wichtig ist oder war. Sich darüber klar werden das alles materielle nur nettes aber letztlich eher unwichtiges Beiwerk ist.

Was denkt ihr über über das Thema? Unwichtige Emotion die man getrost entsorgen kann oder dringend notwendiges Ventil für die eigene Seele in schlechten Zeiten?

Cyphermaster
2019-08-28, 15:00:32
Aber warum ist das so? Ist es nur das gesellschaftliche Phänomen das man sich schwach fühlt wenn man nicht vor lauter Glück strahlt? Die Gesellschaft hat den Erfolgs- und Selbstoptimierungszwang so weit getrieben, daß solche notwendige Seelenhygiene wie Trauer eben als Schwäche, als Fehler usw. interpretiert und ausgenutzt wird. Hart, aber wahr.

taddy
2019-08-28, 15:16:28
Ich selbst bin froh über jeden Tag wo meine verdrängte Trauer nicht ausbricht. Das klingt nun vermutlich als Außenstehender so, als wäre ich labil.

Dem ist natürlich nicht so, aber ich kann den Tod von nahen Angehörigen nur sehr schwer verarbeiten, was vermutlich auch damit zusammen hängt, dass ich a) noch nicht so häufig damit konfrontiert wurde und b) der Alltag so stressig ist, dass der Zustand Trauer nur hinderlich wäre. Eine andere Art von Trauer um verstorbene, mal abgesehen von Liebeskummer kenne ich persönlich sogar noch nicht einmal.

Trauer ist für mich eine, wenn nicht die, schlimmste Emotion und ist daher gut verschanzt im Unterbewusstsein unter Verschluss.

Ich kann Cyphers Deutung da also voll unterstützen

anddill
2019-08-28, 15:19:52
Zum Trauern braucht man auch Ruhe. In der heutigen Reizüberflutung ist es ja schon eine Herausforderung die aktuell anstehenden Dinge durch die CPU zu schleusen, ohne die Hälfte zu vergessen. Trauer kommt in der To-Do liste dann irgendwo nach Schlafen.

Gast
2019-08-28, 15:26:35
Als meine laaaaangjährige Freundin und ich uns getrennt haben habe ich auch viel aktiv getrauert. Lieder angemacht und Abende lang geflennt wie ein Hund. Mittlerweile bin ich drüber weg. Die Trauer selbst ist wichtig aber ich hab auch ein wenig mit ihr geflirtet. Es war unglaublich befriedigend sich der Trauer und den Tränen hinzugeben. Als ich merkte dass das emotionale Feedback bei Gedankenspielen schwächer wurde habe ich aufgehört und mit der aktiven Trauer und habe mir einen Plan gemacht nach vorne zu schauen. So hab ich das Thema tatsächlich in 2 Monaten abschließen können.

Ich merke natürlich immer noch dass viele Gefühle da sind aber ich hab einfach fast keine Schmerzen mehr, da ich der Trauer entsprechend Raum gegeben habe. Aber man muss sich auch irgendwann dazu entschließen weiterzumachen. Von alleine kommt das auch nicht immer.

x-force
2019-08-28, 15:32:50
guck dir mal asiatische insbesondere die japanische gesellschaft an.

kurz gesagt, man möchte die anderen nicht mit seiner laune belasten.
das ganze ist ein phänomen der überbevölkerung.

Gast
2019-08-28, 15:35:58
Die Gesellschaft hat den Erfolgs- und Selbstoptimierungszwang so weit getrieben, daß solche notwendige Seelenhygiene wie Trauer eben als Schwäche, als Fehler usw. interpretiert und ausgenutzt wird. Hart, aber wahr.
Trauer ist nicht produktiv und trägt nicht zum BIP bei, daher irrelevant.

Surrogat
2019-08-28, 15:36:21
guck dir mal asiatische insbesondere die japanische gesellschaft an.

kurz gesagt, man möchte die anderen nicht mit seiner laune belasten.
das ganze ist ein phänomen der überbevölkerung.

kannst du das mit Japan bitte genauer erklären, ich kenne mich da kaum aus, weiß nur das bei denen die Farbe Weiß als Trauerfarbe gilt, warum ist sie dann in der Nationalflagge enthalten?

@Gast: Trauer als Mittel zum verarbeiten extremer Gefühle, das ist genau der wesentliche Punkt. Wie Cypher schon sagte, ein Mittel zur seelischen Hygiene

Gast
2019-08-28, 15:37:34
Zum Trauern braucht man auch Ruhe. In der heutigen Reizüberflutung ist es ja schon eine Herausforderung die aktuell anstehenden Dinge durch die CPU zu schleusen, ohne die Hälfte zu vergessen. Trauer kommt in der To-Do liste dann irgendwo nach Schlafen.
Und warum entschleunigen und entreizen wir unsere Gesellschaft nicht?

30 Stunden Woche Vollzeit ab morgen....

x-force
2019-08-28, 15:42:11
kannst du das mit Japan bitte genauer erklären, ich kenne mich da kaum aus[...]


ich kann dir einen einstiegspunkt anbieten, weiter suchen müsstest du dann selbst:

https://de.wikipedia.org/wiki/Soziales_Verhalten_in_Japan#Gef%C3%BChle
https://de.wikipedia.org/wiki/Honne_und_Tatemae

aufkrawall
2019-08-28, 16:03:03
Gibt es für die vom TO aufgestellte These einen Beleg, oder ist das hier ein Fall von "Früher war alles besser", "Die gute, alte Zeit", "Alles ist so furchtbar" etc.?

Argo Zero
2019-08-28, 16:05:41
"Liebe dich selbst und beobachte"
So stapfe ich durchs Leben. Keine Ahnung, was die anderen Menschen machen. Emotionen gehören dazu und Kraft tanke ich in der Ruhe. Freude und Trauer gehören natürlich auch dazu.

Monger
2019-08-28, 20:19:56
So bescheuert es klingt, aber ich denke wir haben das Trauern verlernt, weil es weniger zu Trauern gibt. Familien sind heute viel kleiner, weit verstreut, und Sterblichkeit ist gering. Schwere Krankheit und Tod passiert inzwischen selten zu Hause. Der Bekanntenkreis besteht zu einem hohen Maß an Gleichaltrigen. Viele von uns haben jahrzehntelang überhaupt nichts mit Tod und Verlust zu tun. Dafür sterben im Alter dann alle wie die Fliegen. Liebeskummer ist auch schlimm, aber ich finde das ist einfach nicht die selbe Kategorie. Ich finde, da ist Trauern auch kulturell sehr tief verwurzelt und in hohem Maße erwünscht.

Cyphermaster
2019-08-29, 11:39:31
kurz gesagt, man möchte die anderen nicht mit seiner laune belasten.
das ganze ist ein phänomen der überbevölkerung.Auch, wenn sich ein Japaner abschottet, um zu trauern, weiß seine Umgebung doch, daß er trauert.
So bescheuert es klingt, aber ich denke wir haben das Trauern verlernt, weil es weniger zu Trauern gibt.Das denke ich nicht. Der Mensch kommt nicht durch sein Leben, ohne daß es irgendwann emotionale Tiefschläge gibt. Ob nun ein Familienmitglied oder ein Freund, jeder hat Menschen, die ihm nahestehen. Oder auch Haustiere. Man hat Leidenschaften, in die man Herzblut investiert, die man kläglich scheitern sieht. Beziehungen zerbrechen. Man bemerkt im Alter rückwirkend, daß man falsche Entscheidungen im Leben getroffen hat. All das führt -normalerweise- dazu, daß man trauert, auf die eine oder andere Weise, mehr oder minder intensiv.

Monger
2019-08-29, 12:07:11
Das denke ich nicht. Der Mensch kommt nicht durch sein Leben, ohne daß es irgendwann emotionale Tiefschläge gibt.
Das nicht, aber es ist kein Alltag.
Denken wir mal hundert Jahre zurück: Mein Vater hatte sieben Geschwister, sein Vater 9. Seine Onkel und Tanten ähnlich. Alle lebten in einer ähnlichen Ecke. Ergo, dass ein bekanntes Familienmitglied (bis, sagen wir mal, 3. Grad) verstarb, war ein nahezu jährliches Ereignis. Sei es durch Krankheit, Krieg, Unfälle, Kindsbett...

Das gibt logischerweise einen ganz, ganz anderen Bezug zum Trauern, als wenn es so unregelmäßig passiert.

Cyphermaster
2019-08-29, 12:40:17
Wäre mir nicht sicher, ob das ein intensiverer Bezug ist. Man weiß ja auch, daß andauernder Tod um einen herum einen abstumpfen läßt.

Monger
2019-08-29, 12:46:21
Das ist die Kehrseite. Bin auch nicht überzeugt davon, ob es gut ist menschliche Tragödien mehr zu "würdigen". Eine Katastrophe bleibt eine Katastrophe. Eine ganze Kultur entlang von Extremsituationen zu bauen, ist glaub net gesund. Sonst müssten wir ja alle mit Helm umher laufen.

Trauern ist wichtig, aber es ist halt auch was sehr individuelles. Finde es erstmal nicht schlimm, dass viele Menschen dass nur im Privaten machen.

Cyphermaster
2019-08-29, 13:23:59
Im Privaten machen != gar nicht machen. Auf Letzteres wollte glaube ich Surrogat raus.

Gast
2019-08-29, 21:08:11
Hm, die Trauer würdigen?

Ja, tiefe Trauer ist es wert, gewürdigt zu werden. Schließlich liegt ihr immer Liebe zugrunde, die ihr Ziel verloren hat. Und niemand braucht oder sollte sich seiner Liebe und damit auch seiner Tränen schämen.

Klingt wie ein dummer Kalenderspruch und trotzdem ist es wahr.

Surrogat
2019-08-30, 11:18:13
Im Privaten machen != gar nicht machen. Auf Letzteres wollte glaube ich Surrogat raus.

Mir ging es vor allem darum das Bewusstsein für diese Emotion wieder aufzufrischen, das ja in der modernen Zeit scheinbar etwas abhanden gekommen ist.

Mir persönlich geht es übrigens so das ich manchmal regelrecht schockiert bin wenn ich daran denke wie extrem Trauerfälle andere Menschen treffen müssen, also quasi Fremdtrauer und nicht meine eigene.

Z.b. hat mich zuletzt dieses Bild extrem berührt, Angehörige suchen ihre gefallenen Männer, Brüder, Väter, Söhne....auf dem Schlachtfeld: https://www.spiegel.de/plus/images/5363f945-674d-4559-8efe-732a332f4242_w1920_r1.7777777777777777_fpx52_fpy58.jpg

Was mag nur in diesen Menschen vorgegangen sein, schier unglaublich diesen Verlust, die ganze Situation an sich zu verarbeiten.

Übrigens gibt es einen Film der das ganze Thema ganz hervorragend verarbeitet und es ist ein Sci-Fi, lustig aber wahr. Ich spreche von Star Trek am Rande des Universums, in dem Spocks Halbbruder (sollte übrigens ursprünglich von Sean Connery gespielt werden) Menschen und andere Wesen dazu bringt ihre tiefsten Emotionen zu offenbaren, zumeist ist dies hier auch Trauer.

x-force
2019-08-30, 13:29:39
Was mag nur in diesen Menschen vorgegangen sein, schier unglaublich diesen Verlust, die ganze Situation an sich zu verarbeiten.


auf deinem bild trauern die wenigsten. sie laufen verstört über das schlachtfeld und sind vollkommen überfordert.

das verarbeiten passiert häufig genug eben nicht, wer das nicht verarbeiten kann bleibt traumatisiert zurück.